von Puki
April 2020
Seit das Coronavirus Anfang des Jahres Europa erreicht hat, reagieren die Menschen, Behörden und Institutionen alle auf ihre Art, um mit ihren Mitteln, Möglichkeiten und Talenten zur Bewältigung der Krise beizutragen, um sich gegenseitig zu unterstützen und Mut zu spenden. Ich möchte Ihnen heute von einer Reaktion der polnischen Kirche und Gläubigen berichten, die ich in dieser Art aus Deutschland nicht kenne. Dazu bin ich ein wenig tiefer in die polnische Kulturgeschichte eingetaucht, habe meine Kenntnisse in Versmaß und Metrik aufgefrischt und mich auf eine Reise in die mir bis dahin unbekannte Welt jahrhundertealter Kirchengesänge begeben. Die Ergebnisse meiner Recherchen sind nicht so eindeutig, wie ich es mir gewünscht hätte, aber ich möchte sie mit Ihnen teilen, da die deutschen Quellen sehr spärlich sind. Außerdem stelle ich Ihnen eine eigene Übersetzung vor, damit der anrührende Flehgesang auch in Deutschland erklingen kann.
Das Beten hat in Polen einen anderen Stellenwert als in Deutschland. Gebetet wird in der Familie, in der Kirche, bisweilen sogar im öffentlichen Raum, im Radio und im Fernsehen. Beten ist also nichts Außergewöhnliches. Außergewöhnlich ist aber zurzeit, dass ein besonderer Flehgesang zum Ende der Gebete angestimmt wird, der als
suplikacje bezeichnet wird. Der Klang dieses gesungenen Gebetes ist so mächtig und erhaben, der Text so würdevoll und demütig, dass ich unbedingt herausfinden wollte, wer den Text verfasst hat und wer die Melodie komponiert hat. Zu meiner Überraschung konnte ich die Antworten nicht finden, dafür taten sich aber weitere Fragen auf, u.a., wie der deutsche Terminus für
suplikacje lautet. Es ist relativ eindeutig, dass die Wortwurzel aus dem Lateinischen stammt –
supplicare heißt bitten, flehen und
supplicatio ist eine flehentliche Bitte. Im Deutschen haben wir zwar das Wort Supplik, das auf die gleiche Wurzel zurückgeht wie
suplikacje , allerdings in der Bedeutung einer schriftlichen Bitte, v.a. an den Papst. Im Polnischen wird
suplikacja als katholischer Flehgesang definiert, wobei aufgrund dessen, dass der Gesang normalerweise mehrere Bitten beinhaltet, üblicherweise der Plural
suplikacje verwendet wird.
Und tatsächlich findet sich der Begriff Flehgesang, den ich intuitiv als deutsches Pendant gewählt habe, in alten Kirchenpublikationen wieder. So schreibt der Theologe und Hymnologe August Jacob Rambach 1817 im ersten Band seiner sechsteiligen Anthologie christlicher Gesänge, dass der „Flehgesang bei traurigen Gegebenheiten“ in Schriften des 13. Jahrhunderts vorkommt und schon in dieser Zeit „regelmäßig am Sonnabend vor Lätare zum Completorium gesungen“ wurde. Der Aspekt des Flehens bei trauriger Angelegenheit ist also gegeben, ebenso der des Gesangs – offenbar ist also der Flehgesang tatsächlich die deutsche Entsprechung von
suplikacje , zumindest eine historisch korrekte, denn in unseren Zeiten ist diese Sonderform des Gebets – zumindest mir und ohne vertiefende Recherche bzw. Nachfragen bei Experten – nicht bekannt. Umgekehrt reicht aber die Tradition weit ins Mittelalter zurück.
Die polnische Musikwissenschaftlerin und Expertin für Kirchenmusik Bogumiła Mika untersuchte in ihren wissenschaftlichen Publikationen u.a. den Flehgesang, der aktuell in Polen erklingt. Er trägt den Titel
Święty Boże – zu Deutsch: Heiliger Gott – und ist einer von drei in Polen existierenden Flehgesängen. Mika weist darauf hin, dass die dreifache Anrufung Gottes, mit der dieser Flehgesang eröffnet wird, in der Tradition aller christlichen Kirchen vorkommt und ab dem 4. Jahrhundert gesungen wurde. Die genaue Entstehungszeit sowie der Autor seien zwar umstritten, hingegen unumstritten sei es, dass dieses sog. Trisagion – von griechisch „drei“ und „heilig“ – bereits im 5. Jahrhundert weit verbreitet war und fester Bestandteil der Liturgien in der Ostkirche, z.B. in Byzanz. Die altgriechische Version des Trisagions lautet: Ἅγιος ὁ Θεός, ἅγιος ἰσχυρός, ἅγιος ἀθάνατος, ἐλέησον ἡμᾶς, die lateinische Übersetzung: Sanctus Deus, sanctus fortis, sanctus immortalis, miserere nobis. Zu Deutsche bedeutet dies: Heiliger Gott, heiliger starker, heiliger unsterblicher, erbarme dich unser.
Die dreifache Anrufung Gottes mit den Worten „heilig“ ist schon in der Bibel begründet, und zwar in der Vision des Propheten Jesaja, gemäß der die Serafim mit genau diesen Worten Gott preisen (Jes. 6.3) und wurde auf dem Konzil von Chalcedon 451 als Ansprache der Dreifaltigkeit Gottes interpretiert, erklärt Mika weiter.
In dem Flehgesang
Święty Boże folgen dem Trisagion die einzelnen Strophen, die die flehentlichen Bitten enthalten und dem Gebet ihren Namen geben. Die älteste Textversion, die ich gefunden habe, enthält gleichzeitig auch die älteste für mich auffindbare Musikversion – beides befindet sich in einem Kirchenliederbuch aus dem Jahr 1838. Das Kirchenliederbuch ist das erste dieser Art in Polen und wurde von dem Priester Michał Marcin Moduszewski zusammengestellt, wobei einige der Melodien von ihm selbst komponiert wurden. Wer der tatsächliche Komponist des Flehgesangs ist, bleibt aber unklar.
Während also die genaue Urheberschaft von Text und Melodie des Flehgesangs
Święty Boże im Verborgenen bleiben, kann das Gebet ins Deutsche übertragen werden und so dem Deutsch verstehenden Leser, Betenden oder einfach Interessierten zugänglich gemacht werden. Eine Übersetzung existiert meines Wissens bisher nicht, deshalb möchte ich Ihnen hier meine eigene vorstellen. Und zeige dabei gleich, wie ich sie erarbeitet habe, damit sie möglichst nah am Original bleibt.
Der polnische Text des Flehgesangs
Święty Boże lautet:
Święty Boże!
Święty Mocny!
Święty a Nieśmiertelny!
Zmiłuj się nad nami.
Od powietrza, głodu, ognia i wojny,
Wybaw nas Panie!
Od nagłej i niespodzianej śmierci,
Zachowaj nas Panie!
My grzeszni Ciebie Boga prosimy,
Wysłuchaj nas Panie!
Hinsichtlich der Schreib- und Interpunktionsweise gibt es viele unterschiedliche Versionen, bei denen z.B. nach den einzelnen Anrufungen entweder Ausrufezeichen oder Kommata gesetzt werden. Ich wähle hier eine, die in sich möglichst kohärent ist und dem Charakter des gedichteten Textes Tribut zollt, indem die ersten Zeilen jeweils mit einem großen Buchstaben beginnen. Außerdem achte ich darauf, dass alle Ansprachen Gottes mit einem großen Buchstaben beginnen.
Für diejenigen mit starkem Polnisch füge ich erwähnend hinzu, dass das Bindewort „a“ hier identisch mit „i“ ist, und zwar ohne die heute übliche adversative Nuance. Im Übrigen fehlt in der Version von Moduszewski das „a“ gänzlich. Das Wort „niespodzianej“ wiederum wird heute oft als „niespodziewanej“ gesungen, ich belasse es aber bei der ursprünglichen Version.
Da der Text nicht nur gesprochen, sondern gesungen wird, kommt es zu Abweichungen der Silbenlängen und Betonungen in der gesungenen Form gegenüber der gesprochenen. Ich habe für meine Übersetzung daher das Versmaß genauer betrachtet, und zwar sowohl das der Sprachform als auch das der Musikform, um Schritt für Schritt bzw. evtl. für beide Versionen entsprechende Übersetzungen zu erarbeiten. Das Ziel dabei war, nach Möglichkeit das Versmaß beizubehalten.
Ich habe also mit der Silbenzählung in dem schriftlichen Text begonnen und die Hebungen und Senkungen markiert. Dabei habe ich der Einfachheit halber keine der gängigen Notationen gewählt, sondern meine eigene und mich an die übliche Unterscheidung in betont und unbetont gehalten. Damit komme ich zu diesem Ergebnis:
Polnischer Text | Silbenzahl | Betonung Text (betont ´, unbetont -, Wortende |) Sprachmetrum (ident. mit regulärem Musikmetrum) |
---|---|---|
Święty Boże! | 4 | ´ - | ´ - | |
Święty Mocny! | 4 | ´ - | ´ - | |
Święty a Nieśmiertelny! | 7 | ´ - | - | - - ´ - | |
Zmiłuj się nad nami. | 6 | ´ - | - | - | ´ - | |
Od powietrza, głodu, ognia i wojny, | 11 | - | - ´ - | ´ - | ´ - | - | ´ - | |
Wybaw nas Panie! | 5 | ´ - | - | ´ - | |
Od nagłej i niespodzianej śmierci, | 10 | - | ´ - | - | - - ´- | ´ - | |
Zachowaj nas Panie! | 6 | - ´- | - | ´ - | |
My grzeszni Ciebie Boga prosimy, | 10 | - | ´ - | ´ - | ´ - | - ´- | |
Wysłuchaj nas Panie! | 6 | - ´ - | - | ´ - | |
Polnischer Text | Silbenzahl | Betonung Text (betont ´, unbetont -, Wortende |) Sprachmetrum (ident. mit regulärem Musikmetrum) | Betonung bzw. Dehnung des Textes über die Musik in der Tatraversion, Musikmetrum | Anzahl der gesungenen Silben |
---|---|---|---|---|
Święty Boże! | 4 | ´ - | ´ - | | ´ - | - ´ | | 4 |
Święty Mocny! | 4 | ´ - | ´ - | | ´ - | - ´ | | 4 |
Święty a Nieśmiertelny! | 7 | ´ - | - | - - ´ - | | gleich | 7 |
Zmiłuj się nad nami. | 6 | ´ - | - | - | ´ - | | ´ - | ´ - | - | - ´| | 7 |
Od powietrza, głodu, ognia i wojny, | 11 | - | - ´ - | ´ - | ´ - | - | ´ - | | - | - ´ - | ´ - | ´ - | - | ´ - ´ | | 12 |
Wybaw nas Panie! | 5 | ´ - | - | ´ - | | - ´- | ´ | - ´ | | 6 |
Od nagłej i niespodzianej śmierci, | 10 | - | ´ - | - | - - ´- | ´ - | | - - | ´ - | - | - - - ´- | ´ - ´ | | 13 |
Zachowaj nas Panie! | 6 | - ´- | - | ´ - | | - - ´- | ´ | ´ - | | 7 |
My grzeszni Ciebie Boga prosimy, | 10 | - | ´ - | ´ - | ´ - | - ´- | | - ´ | ´ - | ´ - | ´ - | - ´- ´ | | 12 |
Wysłuchaj nas Panie! | 6 | - ´ - | - | ´ - | | - - ´- | ´ | ´ - | | 7 |
Übersetzung Deutsch | Silbenzahl | Betonung Text | Betonung bzw. Dehnung des Textes über die Musik, Musikmetrum in Anlehnung n die Tatraversion | Anzahl der gesungenen Silben |
---|---|---|---|---|
Heiliger Gott! | 4 | ´ - - | ´ | | ´ - - | ´ | | 4 |
Mächtiger Gott! | 4 | ´ - - | ´ | | ´ - - | ´ | | 4 |
Heiliger, Unsterblicher! | 7 | ´ - - | - ´- - | | ´ - - | - ´- ´ | oder ´ - ´ | - ´- - | (längere Dehnungen) | 7 |
Erbarme Dich unser. | 6 | - ´- | - | ´ - | | - ´- | ´ | - ´ | | 6 |
Von der Luft, vom Hunger, Feuer und Krieg, | 10 | - | - | ´ | - | ´ - | ´ - | - | ´ | | - | - | ´ | - | ´ - | ´ - | - | ´ - ´ | | 12 |
Erlöse uns Herr! | 5 | - ´- | - | ´ | | - ´- | ´ - | ´ | | 6 |
Vor plötzlichem, unerwartetem Tod, | 10 | - | ´- - | ´- - - - | ´ | | - ´ | ´- - | - - ´ - - | ´- ´| | 12 |
Beschütze uns Herr! | 5 | - ´- | - | ´ | | - ´- | ´- | ´ | | 6 |
Wir Sündigen, wir bitten Dich, o Gott, | 10 | - | ´- - | - | ´- | - | - | ´ | | - ´ | ´- - | - | ´- | ´ | - | ´ | | 11 |
Erhöre uns, o Herr! | 6 | - ´- | - | - | ´ | | - ´- | - | - | ´ | | 6 |