Hermance

LESEECKE: HERMAŃCE

rezensiert von PUKI


Oktober 2016



Das ist Literatur! Selten ist ein Buch der Gegenwartsliteratur sprachlich so kunstvoll und erzählerisch so einfallsreich geschrieben wie dieser Roman. Man liest, staunt und genießt. Aber was macht den Reiz von Hermańce nun genau aus?

Zum einen die Sprache. Die Autorin verwendet einen so reichen Wortschatz, ohne dabei auf irgendwelche modernen oder technischen Fachausdrücke zurückzugreifen, dass man während der Lektüre den Eindruck hat, das gesamte Wörterbuch der polnischen Hochsprache – und nicht nur dieser – injiziert zu bekommen. Ihre Vergleiche und Metaphern sind so dicht an originellen Gedanken und poetischer Ästhetik, dass man sie nur in sich aufzunehmen braucht, um sich geistig gesättigt zu fühlen. Beim Lesen hält man immer wieder an und stellt bewundernd fest, dass die Autorin die Sprache für ihre Zwecke zurechtdehnt anstatt, wie die meisten Autoren es tun, sich ihren Grenzen zu unterwerfen. An dieser Stelle gebührt der Autorin Hochachtung.


Zum anderen die Erzählweise. Zu Beginn erinnert sie an Marquez‘ Hundert Jahre Einsamkeit , in denen die Grenzen zwischen fiktiver Realität und Fiktion verschwimmen – man fragt sich immer wieder, ob eine Aussage ein Faktum der Erzählung schildern soll oder im übertragenen Sinne, als eine Art Interpretation des Erzählers, zu verstehen ist. 


Der illusorische Effekt wird durch den unklar gelassene Bezug zur erzählten Zeit verstärkt – als Leser kann man nur indirekt, aus erwähnten Fakten, ableiten, ob zwischen zwei Passagen ein paar Tage, mehrere Wochen oder ganze Jahre vergangen sind. 


Die Handlung an sich ist weder besonders romantisch noch actionartig spannend, aber sie ist dennoch voller spannungsreicher Ereignisse und überraschender Entwicklungen. Die filigran herausgearbeitete Funktionsweise eines polnischen Dorfes „mitten im Nirgendwo“ ist so überzeugend authentisch, wie humorvoll und traurig zugleich. Das Dorf Hermańce, zu Deutsch in etwa Herrmannsdorf, ist der Schauplatz der jungen Jahre des Erzählers M. Złotowski, über die er berichtet, wobei der Roman teils in Form einer Erzählung und teils als Briefe des Erzählers an einen toten Dichter, den dieser als Kind kannte, verfasst ist.

Thematisch geht es in Hermańce um berufliche Träume junger Menschen und deren Un-/Fähigkeit, sie zu realisieren, um psychische Krankheiten, um das traditionelle Familienbild, um pathologische Familien, um tüchtige Landfrauen, um Trinkerei, um Sexualität, um die Zugehörigkeit von geistig Kranken zur polnischen Gesellschaft, um den Stellenwert der Kirche und der Medizin in einem Dorf, um die Umwelt, um Tourismus, um Kunst und nicht zuletzt um Mord.


Eine Übersetzung ins Deutsche wäre eine große Herausforderung für den Übersetzer und zugleich eine Bereicherung in der Sparte hochwertiger ausländischer Literatur. 


Zum Schluss möchte ich noch einen Satz als Beispiel für die kunstvolle Sprache anbringen und den  Versuch einer Übersetzung wagen.

 „Pamięć rozmywała Gośkę w coraz większe kałuże, a w nich odbijała się pustka zaciągniętego siwizną nieba“ (S. 244).


Zu Deutsch: Die Erinnerung verwischte Gretchen zu immer größeren Pfützen, in denen sich die Leere des Himmels, den ein altgrauer Schleier bedeckte, widerspiegelte.


Oder etwas freier: Die Erinnerung schwemmte Gretl aus und ließ sie in immer größeren Pfützen aufgehen, die das leere Altgrau des Himmels widerspiegelten.


Rezensiert wurde:

Kosmowska, Barbara (2008): Hermańce . [Übers. d. Rez.: Die Herrmannsdörfler.] Warszawa: wab.

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